Die Weimarer Republik verhetzt als „Judenrepublik“

In seinen Lebenserinnerungen, die er für seine Kinder auf-geschrieben hat, berichtet mein Vater, Pfarrer Heinz Martin Siebert (1905–1991),  von den verschiedenen Einflüssen auf seine politische Meinungsbildung und der mangelnden politischen Orientierung durch Elternhaus und Schule.

Hier ein kurzer Ausschnitt:

 

 

Der erste Weltkrieg ging im November 1918 zu Ende. Deutschland hatte Russland besiegt und ihm den Frieden aufgezwungen, zugleich aber dem Bolschewismus unter Lenin zur Macht verholfen. Im Westen aber hatte die Übermacht der feindlichen Alliierten nach dem Kriegsein-tritt Amerikas und auch die Hungerblockade uns in die Knie gezwungen. Und auch die ausgemergelten, hungernden und frierenden Massen wollten nicht mehr.

Heinz Martin Siebert
Heinz Martin Siebert

Wie oft hatte auch ich schon die Rede der Leute gehört: „Es wird Zeit, dass sie Schluss machen“ und „gleicher Lohn und gleiches Essen und der Krieg wär' bald vergessen.“ Es kam zur Revolution - der Kaiser, die Könige, die Fürsten dankten ab. „Macht euren Dreck alleene“, soll der König von Sachsen gesagt haben.

Nach der bedingungslosen Kapitulation strömten die Millionen -Heere deutscher Soldaten von allen Kriegsschauplätzen- in die Heimat, während die deutschen Kriegsgefangenen noch lange warten mussten, bis auch für sie die Stunde der Heimkehr schlug. Die Weimarer Republik übernahm ein bitterschweres Erbe, und die Jahre 1919 – 1923 waren kaum weniger schwer als die Jahre zuvor.

Ich war damals ein dummer Junge von 13 – 14 Jahren und die bald aufkommenden Reden von den „Novemberverbrechern“ und der „Judenrepublik“ blieben nicht ohne Eindruck auf mich. Die neue Fahne der Weimarer Republik „Schwarz-Rot-Gold“ war nicht die Fahne meiner Eltern und auch nicht die Fahne einer Kirche, die durch die Verbindung von „Thron und Altar“ geprägt war. Rosa Luxemburg, Liebknecht, Scheidemann, Mathias Erzberger, Rathenau, der erste Reichspräsident Friedrich Ebert – das waren alles Namen, die von einer nationalistischen Presse und der ehemaligen Herrenschicht nur mit Dreck beworfen wurden. Und der Dreck blieb hängen. Auch ich war von Anfang an „deutsch-national“, und von da war es für viele Menschen -auch für mich- nur ein kleiner Schritt zu den „Völkischen“ und den „Nationalsozialisten“. Wen die Geschichte interessiert, der lese es in der einschlägigen Literatur! .....

Ostern 1921 kam ich in die Obersekunda (11. Klasse), d. h. ich hatte die „mittlere Reife“ erreicht, oder, wie man es bis zur Revolution genannt hatte, das „Einjährige“. Wer früher dieses Einjährige hatte, der brauchte nur ein Jahr zu den Soldaten, die anderen mussten zwei Jahre hin! Wie gern hätte ich damals die Schule quittiert, aber die Eltern drangen auf das Abitur, und ich fügte mich. .....

Natürlich ging ich auch in die Tanzstunde, aber die Tanzerei machte mir wenig Spaß, ich war im Umgang mit den „Dämlichkeiten“ noch stark unterentwickelt. Keine Erfolgsmeldung aber auch keine Schadensanzeige. .....

Mehr interessiert war ich zusammen mit einigen Schulkameraden für die wachsende „völkische Bewegung“. Das Lied der Brigade Ehrhard „Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz – weiß – rot das Band, die Brigade Ehrhard werden wir genannt“ sang ich mit einiger Begeisterung, ohne freilich einem der zahlreichen Verbände anzugehören. Hitler und Ludendorff, das waren Namen, mit denen sich illusionäre Hoffnungen verbanden.

Wenn ich heute nach über 50 Jahren an diese Zeit zurückdenke, kann ich nur sagen: Wie dumm und unreif und wie falsch orientiert bin ich damals gewesen. Auch von meinen deutschnationalen aber unpolitischen Eltern empfing ich keine Anregung zu einer nur halbwegs objektiven politischen Meinungsbildung. Ich wüsste auch keinen meiner Lehrer zu nennen, der in den beiden letzten Schuljahren auch nur versucht hätte, Einfluss auf unsere politische Willensbildung im Sinne der Weimarer Demokratie zu nehmen. Sie schwiegen sich alle aus. Von Hetzern aber wurde sie uns jungen Staatsbürgern als „Judenrepublik“ verhasst gemacht: „Ja, und wir wollen keine Judenrepublik, pfui Judenrepublik! Schmeißt sie raus, die ganze Judenbande aus unserm deutschen Vaterlande!“

Dieses schändliche Machwerk der Judenfeindschaft hat mein Vater aus seiner Schulzeit aufbewahrt, es kursierte in Klassen des Lessing–Gymnasiums, welches übrigens auch von zahlreichen jüdischen Schülern besucht wurde.

 

 

 

Und während es im kommunistischen Untergrund tönte: „Heraus, Prolet, heraus aus dem Gotteshaus! Schlagt die Pfaffen tot“, sangen wir: „O Deutschland hoch in Ehren, du heil'ges Land der Treu.“

Das Jahr 1923 war wohl das finsterste all dieser Jahre. Es begann mit der Besetzung des Ruhr- und Rheingebietes durch französische und belgische Truppen, auch im Taunus und in Frankfurt lag französisches Militär. Unser Lessing-Gymnasium diente den Franzosen als Unterkunft. Ein geordneter Schulunterricht hörte auf. ..... Der von der Regierung ausgerufene „passive Widerstand“ wurde im Herbst 1923 abgebrochen. Albert Leo Schlageter, den die Franzosen auf der Golzheimer Heide wegen Sabotageakten erschossen hatten, war in dieser Zeit zur nationalen Märtyrerfigur geworden. Die innenpolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisse wuchsen sich zum fast totalen Chaos aus. Während Schieber und Spekulanten ihre Geschäfte machten, verloren in der Inflationszeit Millionen Deutsche ihre Ersparnisse und ihr Vermögen, es kam zum völligen Bankrott. Die Reichsmark verlor jeglichen Wert. .....

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