Liebe Geschwister, Verwandte, Freundinnen und Freunde,

 

der Verein „Begegnung – Christen und Juden Niedersachsen“ hatte dazu aufgerufen, die Gottesdienste am 10. November 2019 unter dem Motto „Aufstehen gegen Antisemitismus“ zu gestalten, um ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen. Darum hatte ich meinem „Pastor loci“ (Ortspfarrer) angeboten, die Predigt zum Thema in den Gemeinden Rosenthal und Schwicheldt zu halten.

   Martin H. Siebert
Martin H. Siebert

Ich habe einige Tage gebraucht, um aus dem Schatz meiner 45jährigen Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus eine Predigt zu erarbeiten, die ich den Gemeinden zumuten kann. Nach den Ereignissen in Halle war mir das natürlich ein besonderes Anliegen.

 

Die nun folgende Predigt habe ich also am 10. 11. 2019 gehalten, und die Reaktionen und Rückmeldungen haben mir gezeigt, dass ich offensichtlich nicht falsch lag. So können auch diejenigen von Euch, die meiner Einladung zu den Gottesdiensten nicht Folge leisten konnten nachträglich teilnehmen.

 

 

GOTTESDIENST zur FRIEDENSDEKADE 2019

ANTISEMITISMUS ERINNERN – ANTISEMITISMUS BEKÄMPFEN

Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr

 

Text: Lukas 6, 27-38 unter besonderer Berücksichtigung von Vers 31:

 

Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, also tut ihnen auch! (Goldene Regel), woraus das Sprichwort entstand: „Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu!“

 

Gnädiger Gott, wir bitten um deinen Geist, dass er uns führe und leite, damit wir Unrecht erkennen und es in Wort und Tat bekämpfen. AMEN

 

Liebe Gemeinde,

 

der US-amerikanische Historiker und jüdische Theologe Joel Carmichael schreibt in der Einleitung zu seinem Buch „Die Satanisierung der Juden“ Folgendes:

 

„Hass auf Außenseiter und Fremde ist eine alltägliche Gegebenheit, Antisemitismus aber ist einzigartig! Einzigartig wegen seines Ursprungs, seiner Intensität, seiner Dauer und seiner Eigenartigkeit. Er ist ein bedeutender Bestandteil der europäischen wie der jüdischen Geschichte der vergangenen 2000 Jahre, und im 20. Jahrhundert hatte er einen entscheidenden Einfluss auf das Weltgeschehen;“

(Übersetzung aus dem Englischen: H. Martin Siebert).

 

Unter dem Anspruch und Zuspruch des Jesuswortes aus dem Lukasevangelium will ich versuchen aufzuzeigen, warum ausgerechnet der Jude Jesus von Nazareth seit fast 2000 Jahren im Mittelpunkt eines Antijudaismus steht, der dem rassistischen Antisemitismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Boden bereitet hat.

 

Im Blick auf den Lukastext denke ich an die Worte des deutsch-jüdischen Historikers Heinrich Graetz, der vor 130 Jahren sagte, dass der historische Jesus nichts gesagt und gelehrt habe, was nicht auch andere Juden zu seiner Zeit gesagt und gelehrt haben könnten. „Jesus ist Seele von unserer Seele, Fleisch von unserem Fleisch, wer könnte ihn je vom jüdischen Volk ausschließen wollen!“ So sagte es Max Nordau, der Unterstützer Theodor Herzls, dem Begründer der Zionistischen Bewegung, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine Heimstätte für Juden in Palästina forderte.

 

Wo also ist das Problem? Das Problem, liebe Gemeinde, ist der Christus! Für Juden ist Jesus ein beachtenswerter Rabbi seiner Zeit, aber für Christen ist Jesus der Christus Gottes, der verheißene Messias, der gekreuzigte und auferstandene Herr. Da aber scheiden sich die Geister, denn für Juden ist Christus ein unüberwindbarer Stolperstein, für Christen aber ist er der Eckstein des Glaubens und der christlichen Kirche.

 

Aus dieser unterschiedlichen Einstellung gegenüber Jesus von Nazareth ist dann leider im Laufe der Geschichte der religiöse Antijudaismus der Christenheit geworden, der im Judentum das von Gott verworfene Volk sah, weil es in Jesus nicht den Messias anerkennen konnte. Diese Verwerfungstheologie stempelte die Juden zu Söhnen und Töchtern der Finsternis, erhob die Kirche zum wahren Israel, und legte somit den Grundstein zum permanenten Antijudaismus, der uns auch heute noch im Antisemitismus spurenhaft begegnet.

 

Darum hat unsere Landeskirche zum Kampf gegen die Judenfeindschaft aufgerufen. Die Evangelische Zeitung für Niedersachsen ruft im Leitartikel vom 3. 11. 2019 zu Gottesdiensten gegen den Judenhass auf. Pastorin Ursula Rudnick, Referentin für Kirche und Judentum in unserer Landeskirche kommt darin zu Wort: Antisemitismus ist Sünde und Häresie, Sünde gegen Gott, doch gleichzeitig ein grundlegendes gesellschaftliches Problem, das in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet und offensichtlich ganz selbstverständlich ist.

 

Laut einer Studie des jüdischen Weltkongresses hegt jeder vierte Deutsche antisemitische Gedanken. Aussagen wie „Juden haben zu viel Macht in der Wirtschaft“ oder „Juden tragen die Verantwortung für die meisten Kriege“ und „Juden drängen sich in vielen Bereichen immer in den Vordergrund“ stoßen laut der Studie auf große Zustimmung. „Es bleibt erschreckend, dass weiterhin jede und jeder Vierte in Deutschland antisemitisch denkt“, sagt Landesbischof Ralf Meister und ruft dazu auf, dass antisemitischen Denkmustern entschieden widersprochen werden müsse.

 

Das wollen wir auch im heutigen Gottesdienst tun, doch das ist gar nicht so einfach. Zunächst müssen wir dazu wissen, dass Judenfeindschaft tief in der europäischen Kultur und der christlichen Religion verwurzelt ist und nach wie vor auf vielfältige Weise Theologie, Denken und Alltagssprache durchzieht. Das sagen nicht nur Pastorin Rudnick und Bischof Meister, sondern auch ich sage es mit Nachdruck, denn seit nun 45 Jahren befasse ich mich mit der Judenfeindschaft, ja dem Judenhass im religiösen Antijudaismus, dem rassistischen Antisemitismus und Antizionismus, und leider sehe ich die Verwurzelung der Judenfeindschaft vielerorts und vielfältig bestätigt.

 

Wenn wir heute im Gottesdienst in besonderer, auch sehr persönlicher Weise an die Pogromnacht vom 9. Auf den 10. November 1938 erinnert werden, dann wird uns auch bewusst, dass an der Zerstörung und Brandschatzung von Synagogen und jüdischen Geschäften zumeist getaufte Christen beteiligt waren. Es gab nur wenige Christen, die öffentlich Widerspruch erhoben, doch Gott sei Dank gab es einige. Weil die Wenigen aber nicht genug waren, und weil die Kirche schwieg, konnte geschehen, was für immer auf uns lasten wird.

 

In dieser Predigt kann ich nur mit Riesenschritten den Verlauf der Judenfeindschaft in einem Zeitraum von fast 2000 Jahren aufzeigen, und das will ich mit einigen markanten Erläuterungen, Beispielen aus eigenem Erleben und dem Verhalten von bekannten Persönlichkeiten tun.

 

Zunächst ein geraffter Rückblick auf die Pogromnacht vom 9. Auf 10. November 1938, die auch beschönigend Reichskristallnacht genannt wurde, als seien dabei nur Fensterscheiben, Schaufenster von Geschäften und Porzellan zu Bruch gegangen.

 

Anlass zum Pogrom war folgender: Der 17jährige Herschel Grynszpan, Sohn einer jüdischen Familie aus Hannover, lebte bei Verwandten in Paris. Seine Eltern lebten als polnische Staatsbürger seit 1914 in Hannover. Bis zum 29. Oktober sollten sie und 1000de weitere polnische Staatsbürger gemäß Beschluss der Reichsregierung nach Polen ausgewiesen werden. Herschel wollte dagegen protestieren, besorgte sich eine Pistole, wurde in die deutsche Botschaft in Paris eingelassen, ging in das Büro des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath, schoss auf ihn und verwundete ihn schwer. Die Nachricht von dem Attentat verbreitete sich sehr schnell in Deutschland, Propagandaminister Josef Goebbels rief zu den schärfsten Vergeltungsmaßnahmen gegen die Juden auf, und als Ernst vom Rath am 9. November starb begann die Vergeltungsaktion, die zur Folge hatte, dass 267 Synagogen, ca. 8000 jüdische Geschäfte und zahllose Häuser und Wohnungen jüdischer Menschen zerstört, in Brand gesetzt und geplündert wurden.

 

Hier bei uns in Peine wurde Hans Marburger in der brennenden Synagoge ermordet. Über 20.000 zumeist jüdische Männer wurden deutschlandweit in sogenannte Schutzhaft genommen und in Konzentrationslager deportiert, nahezu 100 jüdische Menschen wurden in dieser Nacht ermordet.

 

Am Morgen des 10. Novembers 1938 wurde ich von meinen Eltern und meinem um 1 Jahr älteren Bruder Hans mit einem Geburtstagsständchen geweckt, es war mein 5. Geburtstag und der 33. Geburtstag meines Vaters, aber auch der 455. Geburtstag des Reformators Martin Luther, von dem ich damals allerdings noch nichts wusste. Kurze Zeit später standen wir vor unserem Burghauner Pfarrhaus, sahen und rochen den Rauch von der brennenden Synagoge meines Heimatdorfes, die von Nazis, unter denen sich auch Mitglieder der Kirchengemeinde meines Vaters befanden, in Brand gesteckt worden war. Damals wusste ich nichts von Judenfeindschaft und Antisemitismus, aber das Erlebte des Tages hatte sich tief in meine Seele eingebrannt, wurde zu einem Schlüsselerlebnis, das mich 35 Jahre später durch die Begegnung mit jüdischen Menschen dazu herausforderte, den Antisemitismus mit all seinen Begleiterscheinungen zum Lebensthema zu machen, und darum stehe ich heute auch hier, weil ich es ihnen und meiner Kirche, weil ich es euch schulde.

 

Mein Vater schrieb in seinen Lebenserinnerungen zur Pogromnacht Folgendes: „Erst die Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. 11. 1938 öffnete mir wieder die Augen für das drohende Unheil, das unserem Volk von Hitler und seiner Gefolgschaft drohte. In ganz Deutschland tobte sich der seit Jahren hochgespielte Judenhass aus in schrecklichen Judenpogromen. (…) Am Morgen des 10. Nov. 1938 wurde auch die Burghauner Synagoge auf höheren Befehl eingeäschert. Wir waren aufs Tiefste über diesen Vandalismus erschüttert, zugleich aber auch unfähig, dem Unheil zu wehren. Ich weiß nicht, ob ich es am folgenden Sonntag gewagt habe, ein Wort zu dieser Schandtat zu sagen. Wenn, dann sicher nur verklausuliert, durch die Blume, wahrscheinlich habe ich aber gar nichts gesagt. Unvergessen ist mir der Satz, den mir ein alter Sozialdemokrat – unser Nachbar Frick – damals am 10. Nov. angesichts der brennenden Synagoge zurief: „Herr Pfarrer, wer sich an Weihrauch und Knoblauch (Katholiken und Juden) vergreift, der stirbt daran!“ „Wir haben alle versagt, alle!“ So sagte Vater es mir einmal viele Jahre später. Soweit mein Vater, Gott habe ihn selig.

 

Der Schriftsteller Reinhold Schneider schrieb über sein Wegschauen und Schweigen am Pogromtag: „Am Tage des Synagogensturms hätte die Kirche schwesterlich neben der Synagoge erscheinen müssen. Es ist entscheidend, dass dies nicht geschah. (…) Aber was tat ich selbst? Als ich von den Bränden, Plünderungen, Gräueln hörte, verschloss ich mich in mein Arbeitszimmer, zu feige, um mich dem Geschehen zu stellen und etwas zu sagen.“

 

Die Kirche und ihre führenden Theologen waren stumm! Doch einer ihrer Bischöfe jubelte und drückte schriftlich aus, was nicht wenige seiner Amtsbrüder nur hinter vorgehaltener Hand gesagt hätten. Bischof Martin Sasse von der thüringischen Landeskirche schrieb kurz nach der Pogromnacht an sein „Kirchenvolk“:

 

„Am 10. Nov. 1938, an Luthers Geburtstag, brennen die Synagogen in Deutschland! Das deutsche Volk muss die Worte Luthers, des größten Antisemiten seiner Zeit, des Warners seines Volkes vor den Juden, beachten und befolgen.“ (Übersetzung aus dem Englischen: H. Martin Siebert).

 

Worauf aber berief sich Bischof Sasse, was waren Luthers Worte? Ich übersetze aus der englischen Ausgabe seiner 1543 verfassten Schmähschrift:

 

„Von den Juden und ihre Lügen:

Wir wissen bis zum heutigen Tag nicht, welcher Teufel sie in unser Land brachte. (…) Sie sind eine schwere Last, eine Plage, eine Pestilenz, sie sind ein WAHRES UNGLÜCK für unser Land.“

Dann führt er aus, wie man mit den Juden verfahren soll:

„Als erstes soll man ihre Synagogen und Schulen in Brand setzen, und alles, was nicht brennt mit Dreck abdecken, dass niemand mehr auch nur einen Stein davon sieht. Das soll zur Ehre unseres Herrn und der Christenheit getan werden, dass Gott sehen möchte, dass wir Christen sind und nicht dulden, dass sein Sohn und seine Christen von den Juden öffentlich gelästert werden.“

Dann gibt er noch den Rat, ihre Häuser zu zerstören, ihr Geld und ihre Silber- und Goldschätze zu konfiszieren.

„Vertreibt sie auf immer aus dem Land, (…) in jedem Fall weg mit ihnen.“

 

20 Jahre früher hatte er noch eine projüdische Schrift verfasst mit dem Titel „Dass unser Herr Jesus Christus ein Jude war“. Luther hatte wohl gehofft, dass die Juden sich auf seine Seite stellen würden in gemeinsamem Kampf gegen den Papst, doch die Juden verweigerten ihm die Gefolgschaft, und das wollte er ihnen mit seiner Schmähschrift nun heimzahlen.

 

Heute können wir nur mit Entsetzen fragen, welcher Teufel ihn zu seinen unverzeihlichen Worten getrieben hatte?

 

Die Nazis hatten also nur noch die Konzentrations- und Vernichtungslager hinzuzufügen. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess von 1945/46 soll Julius Streicher, der Herausgeber des üblen Nazimagazins „Der Stürmer“, dann auch gesagt haben, dass eigentlich Luther auf der Anklagebank sitzen müsste, denn die Nationalsozialisten hätten schließlich nur ausgeführt, was er vorgeschlagen hatte.

 

Natürlich war Luthers Judenfeindschaft ein religiöser Antijudaismus, der darauf gegründet war, dass die Mehrzahl der Juden einst Jesus nicht als den in ihren Heiligen Schriften angekündigten Messias und Erlöser akzeptiert hatten, weil sie ein völlig anderes Messiasverständnis hatten als die ersten Judenchristen.

 

Auch für Luther waren die Juden die Schuldigen am Kreuzestod Jesu, und so wurden sie schließlich als Gottes Feinde, Feinde des Christentums, Söhne und Töchter der Finsternis und Gottesmörder gebrandmarkt.

 

Melito, christlicher Bischof von Sardes, hat in der Mitte des 2. Jahrhunderts erstmals die Menschen jüdischen Glaubens in einer seiner Schriften als Gottesmörder bezeichnet. So basierte fortan die christliche Verwerfungs-theologie auf Gottesmord. Die berühmten und verehrten Kirchenväter Chrysostomus und Augustin, dazu mehrere Konzilien tuteten in dasselbe Horn. –

 

„Hättet ihr den nicht umgebracht, dann wäre euch das alles erspart geblieben“, das sagte ein Polizeibeamter zu einem jüdischen Mitbürger, den er am 10. 11. 1938 verhörte und deutete dabei auf das Kruzifix an der Wand des Raumes, in dem das Verhör stattfand. So geschehen in einer süddeutschen Kleinstadt! Der Polizeibeamte stellte also eine direkte Verbindung her zwischen dem Kreuzestod Jesu und der vorangegangenen Pogromnacht.

 

Was, liebe Gemeinde, fast 2000 Jahre lang gelehrt, gepredigt und vorgehalten wurde, das kann nicht in 2 Generationen – ich meine damit seit 1945 – aus der DNA des Christentums eliminiert werden oder im Ramsch einfach auf die AfD abgeschoben werden, die sich hierfür als Sündenbock natürlich besonders eignet. In der Regierung Niedersachsens gab es Anfang der 50er Jahre nicht weniger als ein Dutzend Minister die Mitglieder der NSDAP waren, und es gab nicht wenige Pastoren, die als „Deutsche Christen“ (DCler) die Nazis unterstützt hatten.

 

Heute aber sind wir alle gefragt, und darum müssen wir auch wissen, wie das Krebsgeschwür des Antisemitismus bei uns und weltweit entstanden ist. Wer z. B. die Lutherbibel von 1937 aufschlägt, der kann zur Erklärung von Römer 9, 30-33 – bitte mal tun – lesen: „Die Juden sind im Unglauben an dem Grund- und Eckstein des Heils vorübergegangen (Lukas 2, 34), und statt die Gerechtigkeit Gottes dankbar anzunehmen, haben sie sich in ihrer Selbstgerechtigkeit versteift.“

 

So geht auch aus Predigten besonders in der Nazizeit immer wieder hervor, dass viele Pastoren vehement erklärten, die Juden trügen die Schuld an ihrem eigenen Unheil. Zu diesen Predigern gehörte auch Dietrich Bonhoeffer. Ein kurzer Blick auf ihn zeigt, wie tief verwurzelt der religiöse Antijudaismus im Denken und Reden der Theologen war.

 

Ende April 1933, nur Wochen nach dem Boykott jüdischer Geschäfte, Arztpraxen, Anwaltskanzleien etc., sagte Bonhoeffer in einem Vortrag mit dem Titel „Die Kirche vor der Judenfrage“ Folgendes: „Die staatlichen Maßnahmen gegen das Judentum stehen für die Kirche aber noch in einem ganz besonderen Zusammenhang: Niemals ist in der Kirche Christi der Gedanke verloren gegangen, dass das ‚auserwählte Volk‘, das den Erlöser ans Kreuz schlug, in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Tuns tragen muss.“

 

In diesen Worten Bonhoeffers haben wir ein Beispiel des religiösen bzw. theologischen Antijudaismus, der hier Ausdruck findet in der seit Jahrhunderten von der christlichen Kirche vertretenen Verwerfungstheologie. –

 

Im Frühjahr 1983 gehörte ich in Seattle zum Vorbereitungsteam einer internationalen Holocaustkonferenz. Als Hauptredner hatten wir Prof. Dr. Eberhardt Bethge, Freund Dietrich Bonhoeffers und Herausgeber seiner gesammelten Schriften, eingeladen. Prof. Bethge war dann einige Tage Gast in unserem Haus. Er war wohl einer der intimsten Freunde Bonhoeffers. Er sagte mir damals, dass Bonhoeffer im Blick auf die brennenden Synagogen auch die letzten Konzepte seiner Verwerfungstheologie verbannt habe. Als aktiver Widerstandskämpfer gegen Hitler griff Bonhoeffer dann dem Rad der Nazidiktatur mutig in die Speichen, und er wurde dafür am 9. April 1945, nur wenige Tage vor der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg, wo er inhaftiert war, auf grausame Weise exekutiert. Für Bonhoeffer war der aktive Widerstand gegen das Naziregime gleichzeitig ein aktives Bekenntnis seines christlichen Glaubens. Er bekannte, so formulierte es Eberhardt Bethge, indem er Widerstand leistete, während die meisten Christen, allen voran viele Theologen, glaubten Widerstand zu leisten, indem sie bekannten.

 

Ja, es gab sie die Widerständler, doch es waren ihrer zu Wenige! Was wäre geschehen, wenn Hunderte von Christen in offiziellen Positionen am 9./10. Nov. 1938 so gehandelt hätten wie der Landrat des ostpreußischen Kreises Schlossberg, Wichard von Bredow? Nachdem er die Nachricht bekommen hatte, dass alle Synagogen in Deutschland in Brand gesetzt werden sollten, und die örtlichen Feuerwehren nicht eingreifen sollten, zog er seine Offiziersuniform an – er war Reserveoffizier – und verabschiedete sich von seiner Frau und seinen fünf Kindern mit folgenden Worten: „Ich gehe jetzt nach Schniewindt zur Synagoge, um als Christ und Deutscher eines der größten Verbrechen in meinem Amtsbezirk zu verhindern.“ Als Trupps von SA, SS und NSDAP zur Synagoge kamen, um sie in Brand zu setzen, stand Landrat von Bredow bereits mit gezogener Pistole am Eingang. Er machte den Schergen klar, dass der Weg in die Synagoge nur über seine Leiche ginge. Die Synagoge von Schniewindt war eine der wenigen in Deutschland, die dem Rassenwahn der Nazis nicht zum Opfer fiel.

 

Theodor Herzl schrieb vor 123 Jahren in seiner Broschüre „Der Judenstaat – Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“: „Wir haben alle ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft aufzugehen und nur den Glauben an unsere Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. (…) Vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger. (…) Wir sind also vergebens überall brave Patrioten, wie es die Hugenotten waren, die man zu wandern zwang. Wenn man uns in Ruhe ließe! Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen!“

 

42 Jahre später, in der Pogromnacht vom 9. Auf 10. N0v. 1938 bewahrheiteten sich Herzls Worte auf abscheuliche Weise. Die Generationen unserer Eltern, Groß- und Urgroßeltern haben es verbrochen, zugelassen oder sich stumm abgekehrt. Ja, es war das Nazifußvolk: die Ortsgruppenleiter, Blockwarte, Frauenschafts- und BDM Führerinnen, HJ und Parteiführer, die an der Basis die Drecksarbeit geleistet haben und Ortschaften judenrein gemacht haben durch vielfältige Handlangerdienste gegen die Juden.

 

Heute aber, liebe Gemeinde, sind WIR mehr denn je dazu aufgerufen aktiven Widerstand zu leisten, wo immer sich Antisemitismus und Rassismus jedweder Art zeigen.

 

Manchmal, liebe Gemeinde, ist weniger mehr, aber heute konnte ich nicht weniger sagen, weil ich es meinen jüdischen Freunden und Freundinnen und meiner Kirche, euch allen schulde. Mein christlicher Glaube lehrt mich, die jüdische Religion mit ihrer Gabe der Thora als von Gott gestifteten Heilsweg zu akzeptieren, genauso, wie ich die christliche Religion mit Jesus dem Christus als Heilsweg für die Christenheit akzeptiere und bekenne. Auf diesem Weg erfreue ich mich der geschwisterlichen Begleitung meiner jüdischen Freundinnen und Freunde, die neben mir auf ihrem Weg unterwegs sind. Sie sind so nahe bei mir und euch allen, dass wir uns gegenseitig die Hände reichen und mit unserem gemeinsamen Bruder Jesus von Nazareth sagen können: „Was ihr nun wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tuet ihnen auch.“

 

SCHALOM und AMEN

ANTISEMITISMUS ERINNERN - ANTISEMITISMUS BEKÄMPFEN
Predigt zur Friedensdekade 2019 im Gottesdienst der evangelisch lutherischen Kirche in Schwicheldt
Martin H. Siebert_Predigt am 10. 11. 201
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